Die berühmte Pädagogin Emmi Pikler wäre in diesem Jahr 110 geworden. Ihr Credo: Kinder brauchen Zeit, Raum und Vertrauen. Was Eltern heute noch von ihr lernen können...
Wenn ein Baby auf die Welt kommt, erleben die Eltern nicht nur ganz viel Glück und Freude, sondern es ergeben sich plötzlich eine Menge Fragen, Probleme und Sorgen. Angefangen bei ganz einfachen praktischen Fragen wie: Wann muss ich stillen? Wie oft wickeln? Warum isst es nicht? Wieviel Schlaf braucht es? Bis hin zu grundsätzlichen Fragen wie: Mache ich alles richtig? Was könnte ich besser machen? Ist mein Kind normal? Oder gar: Bin ich eine gute Mutter?
"Emmi Pikler gibt gute Antworten"
Die Kinderpsychologin Anna Tardos meint, dass Eltern es heute besonders schwer haben, gerade weil es so viele Antworten auf die oben genannten und ähnliche Fragen gibt. „Emmi Pikler gibt gute Antworten und hilft sehr viel – aber sie löst nicht alle Probleme“, sagt Anna Tardos. Sie muss es wissen. Denn die Budapesterin ist die Tochter der berühmten Pädagogin Emmi Pikler, die in diesem Januar 110 Jahre alt geworden wäre.
Zuhörerinnen aus der ganzen Republik
Bei einer Fachtagung des Bildungswerkes der Erzdiözese in Köln gibt Anna Tardos, Jahrgang 1931, über 180 Teilnehmerinnen Auskunft. Die Zuhörerinnen arbeiten als Pikler-Eltern-Kind-Kursleiterinnen in der Familien- und Erwachsenenbildung, sind selbst Tagesmütter oder leiten welche an, arbeiten in Kindertagesstätten oder sozialen Diensten. Frauen aus der ganzen Republik sind zum Kölner Maternushaus angereist, um Erkenntnisse aus den Lehren der Budapester Kinderärztin Dr. Emmi Pikler zu gewinnen.
Eines stellt Anna Tardos von vorneherein klar: Es gibt nicht den Königsweg in der Erziehung von Kindern, weil es keine zwei gleichen Kinder gibt. „Es ist ein Irrtum zu glauben, dass wir Kinder durch richtige Erziehung zu vollkommenen Wesen gestalten können.“ Aber, so Anna Tardos, wir Erwachsenen können lernen, unsere Kinder besser zu verstehen und liebevoll auf ihre Bedürfnisse zu reagieren.
100 Kinder aus 100 Familien
Das hat Emmi Pikler in Budapest vorgemacht. Anna Tardos berichtet, wie Emmi Pikler Anfang der dreißiger Jahre in ihrer Privatpraxis 100 Kinder aus 100 Familien als Kinderärztin begleitete und durch ihre Arbeit zu deren gesunder Entwicklung beitrug. Eine ihrer Hauptideen war die der freien Bewegung, das heißt zum Beispiel: das Kind auf den Rücken zu legen und darauf zu vertrauen, dass es aus eigener Kraft lernt, sich umzudrehen und aufzurichten. „Das war ein Pioniergedanke“, sagt Anna Tardos, an der die Mutter ihre Ideen erprobte – offenbar mit Erfolg, denn schließlich verbreitet sie die Ideen weiter, nicht zuletzt als Direktorin des Emmi-Pikler-Instituts (Lóczy) in Budapest.
Freie Bewegung allein reicht nicht
Freie Bewegung allein reicht laut Anna Tardos aber noch nicht. „Man muss sein Kind kennen lernen, und darum muss man es beobachten und gut zuschauen.“ Es gehe darum, das eigene Kind mit seinen Bedürfnissen und seinem Charakter kennen zu lernen. Dazu dienten häufig auch Alltagssituationen wie das Wickeln oder das Essen. Diese betrachtet Anna Tardos nicht nur als praktische Verrichtungen, sondern als wichtige Beziehungszeit, die Kind und Mutter (oder eine andere wichtige Bezugsperson) noch enger aneinander bindet.
Der nächste Entwicklungsschritt
Anna Tardos zeigt auf dem Tageslichtprojektor ein Schwarz-Weiß-Foto mit einem wacklig stehenden Mädchen. „Das einjährige Mädchen kann noch nicht richtig stehen. Es muss sehr vorsichtig sein“, beschreibt sie. Trotzdem versucht es die junge Dame: „Sie nimmt eine Aufgabe auf sich, die niemand von außen gestellt hat.“
Das Mädchen wagt das Abenteuer und macht dabei den nächsten kleinen Entwicklungsschritt. „Und warum?“ fragt Anna Tardos. „Weil sie Zeit, Raum und Vertrauen bekommt, weil sie in Sicherheit lebt und weil sie nicht erwartet, dass man sich immer mit ihr beschäftigt.“
Hände als Botschafter
Das heißt nicht, dass die Erwachsenen nur eine Zuschauerrolle einnähmen. Die Eltern sollen die freie Bewegungsentwicklung begleiten und in Sicherheit ermöglichen. Sie sollen eine gute Beziehung zu ihrem Kind aufbauen – und das geht laut Anna Tardos eben häufig durch den Umgang im Alltag. „Es ist nicht gleichgültig, wie man ein Kind berührt. Die Hände sprechen sehr viel und sind die Botschafter von Erwachsenen.“
Beim Wickeln sollen Erwachsene das Kind ansprechen, es ernst nehmen und mit ihm – je nach Entwicklungsstand – auf seiner Ebene kommunizieren. Kämpfe beim Wickeln oder beim Essen seien häufig darauf zurückzuführen, dass die Erwachsenen die Geduld verlieren. Anna Tardos sagt, dass viele Konflikte überflüssig seien, aber leider die Harmonie und die Beziehung zwischen Eltern und Kind störten.
Film "Freude an der Bewegung"
Anna Tardos verweist auf den Film „Freude an der Bewegung“ der Pikler-Gesellschaft, in dem immer wieder gezeigt wird, wie freie Bewegungsentwicklung gelingt – durch die teilnehmende Beobachtung und Begleitung der Eltern. Denn Freiheit heißt nicht nur in diesem Fall Verantwortung. Und die liegt nach wie vor bei den Eltern.
Die Tochter von Emmi Pikler betrachtet die Lehren ihrer Mutter nicht als unumstößliche Regeln, sondern eher als anregenden Rahmen voller liebevoller und friedlicher Hinweise zur Kindeserziehung. Es gehe keinesfalls darum, den Eltern starre Verhaltensmuster einzubläuen, sondern Raum zu geben für Individualität. Anna Tardos sagt: „Die Kinder brauchen ehrliche Mütter und keine Mütter, die Modelle aus Büchern nachahmen.“ Sascha Stienen
Info: Der Kurs „Das erste Lebensjahr“ nach Emmi Pikler
Familienbildungsstätten, Kirchengemeinden und Familienzentren bieten den Kurs „Das erste Lebensjahr“ an, der sich in besonderer Weise am Erziehungskonzept von Emmi Pikler orientiert. Mütter, Väter oder Großeltern besuchen die Kurse der katholischen Erwachsenen- und Familienbildung, die in der Regel einmal wöchentlich für anderthalb Stunden stattfinden. Den Babys wird ein auf den Entwicklungsstand abgestimmter, sicherer Spielraum geboten, der in Sicht- und Hörweite der Mutter liegt. Die Eltern können sich in Ruhe und Aufmerksamkeit ganz ihrem Kind widmen, zum Beispiel bei der Beobachtung seines Spiels oder bei der Pflege. Eltern erhalten von den ausgebildeten Kursleiterinnen zudem Informationen über Entwicklungsschritte des Kindes und seine Bedürfnisse im ersten Lebensjahr. Außerdem können sie sich mit ihr und den anderen Eltern über die veränderte persönliche und familiäre Lebenssituation austauschen.
Die Familienbildungsstätte Bonn etwa bietet eine Reihe von Pikler-Kursen an. Weitere Informationen unter http://www.fbs-bonn.de/. Hintergrundinformationen gibt es auch im familienhandbuch.de unter http://bit.ly/kvtu9l
Wenn ein Baby auf die Welt kommt, erleben die Eltern nicht nur ganz viel Glück und Freude, sondern es ergeben sich plötzlich eine Menge Fragen, Probleme und Sorgen. Angefangen bei ganz einfachen praktischen Fragen wie: Wann muss ich stillen? Wie oft wickeln? Warum isst es nicht? Wieviel Schlaf braucht es? Bis hin zu grundsätzlichen Fragen wie: Mache ich alles richtig? Was könnte ich besser machen? Ist mein Kind normal? Oder gar: Bin ich eine gute Mutter?
"Emmi Pikler gibt gute Antworten"
Die Kinderpsychologin Anna Tardos meint, dass Eltern es heute besonders schwer haben, gerade weil es so viele Antworten auf die oben genannten und ähnliche Fragen gibt. „Emmi Pikler gibt gute Antworten und hilft sehr viel – aber sie löst nicht alle Probleme“, sagt Anna Tardos. Sie muss es wissen. Denn die Budapesterin ist die Tochter der berühmten Pädagogin Emmi Pikler, die in diesem Januar 110 Jahre alt geworden wäre.
Zuhörerinnen aus der ganzen Republik
Bei einer Fachtagung des Bildungswerkes der Erzdiözese in Köln gibt Anna Tardos, Jahrgang 1931, über 180 Teilnehmerinnen Auskunft. Die Zuhörerinnen arbeiten als Pikler-Eltern-Kind-Kursleiterinnen in der Familien- und Erwachsenenbildung, sind selbst Tagesmütter oder leiten welche an, arbeiten in Kindertagesstätten oder sozialen Diensten. Frauen aus der ganzen Republik sind zum Kölner Maternushaus angereist, um Erkenntnisse aus den Lehren der Budapester Kinderärztin Dr. Emmi Pikler zu gewinnen.
Eines stellt Anna Tardos von vorneherein klar: Es gibt nicht den Königsweg in der Erziehung von Kindern, weil es keine zwei gleichen Kinder gibt. „Es ist ein Irrtum zu glauben, dass wir Kinder durch richtige Erziehung zu vollkommenen Wesen gestalten können.“ Aber, so Anna Tardos, wir Erwachsenen können lernen, unsere Kinder besser zu verstehen und liebevoll auf ihre Bedürfnisse zu reagieren.
100 Kinder aus 100 Familien
Das hat Emmi Pikler in Budapest vorgemacht. Anna Tardos berichtet, wie Emmi Pikler Anfang der dreißiger Jahre in ihrer Privatpraxis 100 Kinder aus 100 Familien als Kinderärztin begleitete und durch ihre Arbeit zu deren gesunder Entwicklung beitrug. Eine ihrer Hauptideen war die der freien Bewegung, das heißt zum Beispiel: das Kind auf den Rücken zu legen und darauf zu vertrauen, dass es aus eigener Kraft lernt, sich umzudrehen und aufzurichten. „Das war ein Pioniergedanke“, sagt Anna Tardos, an der die Mutter ihre Ideen erprobte – offenbar mit Erfolg, denn schließlich verbreitet sie die Ideen weiter, nicht zuletzt als Direktorin des Emmi-Pikler-Instituts (Lóczy) in Budapest.
Freie Bewegung allein reicht nicht
Freie Bewegung allein reicht laut Anna Tardos aber noch nicht. „Man muss sein Kind kennen lernen, und darum muss man es beobachten und gut zuschauen.“ Es gehe darum, das eigene Kind mit seinen Bedürfnissen und seinem Charakter kennen zu lernen. Dazu dienten häufig auch Alltagssituationen wie das Wickeln oder das Essen. Diese betrachtet Anna Tardos nicht nur als praktische Verrichtungen, sondern als wichtige Beziehungszeit, die Kind und Mutter (oder eine andere wichtige Bezugsperson) noch enger aneinander bindet.
Der nächste Entwicklungsschritt
Anna Tardos zeigt auf dem Tageslichtprojektor ein Schwarz-Weiß-Foto mit einem wacklig stehenden Mädchen. „Das einjährige Mädchen kann noch nicht richtig stehen. Es muss sehr vorsichtig sein“, beschreibt sie. Trotzdem versucht es die junge Dame: „Sie nimmt eine Aufgabe auf sich, die niemand von außen gestellt hat.“
Das Mädchen wagt das Abenteuer und macht dabei den nächsten kleinen Entwicklungsschritt. „Und warum?“ fragt Anna Tardos. „Weil sie Zeit, Raum und Vertrauen bekommt, weil sie in Sicherheit lebt und weil sie nicht erwartet, dass man sich immer mit ihr beschäftigt.“
Hände als Botschafter
Das heißt nicht, dass die Erwachsenen nur eine Zuschauerrolle einnähmen. Die Eltern sollen die freie Bewegungsentwicklung begleiten und in Sicherheit ermöglichen. Sie sollen eine gute Beziehung zu ihrem Kind aufbauen – und das geht laut Anna Tardos eben häufig durch den Umgang im Alltag. „Es ist nicht gleichgültig, wie man ein Kind berührt. Die Hände sprechen sehr viel und sind die Botschafter von Erwachsenen.“
Beim Wickeln sollen Erwachsene das Kind ansprechen, es ernst nehmen und mit ihm – je nach Entwicklungsstand – auf seiner Ebene kommunizieren. Kämpfe beim Wickeln oder beim Essen seien häufig darauf zurückzuführen, dass die Erwachsenen die Geduld verlieren. Anna Tardos sagt, dass viele Konflikte überflüssig seien, aber leider die Harmonie und die Beziehung zwischen Eltern und Kind störten.
Film "Freude an der Bewegung"
Anna Tardos verweist auf den Film „Freude an der Bewegung“ der Pikler-Gesellschaft, in dem immer wieder gezeigt wird, wie freie Bewegungsentwicklung gelingt – durch die teilnehmende Beobachtung und Begleitung der Eltern. Denn Freiheit heißt nicht nur in diesem Fall Verantwortung. Und die liegt nach wie vor bei den Eltern.
Die Tochter von Emmi Pikler betrachtet die Lehren ihrer Mutter nicht als unumstößliche Regeln, sondern eher als anregenden Rahmen voller liebevoller und friedlicher Hinweise zur Kindeserziehung. Es gehe keinesfalls darum, den Eltern starre Verhaltensmuster einzubläuen, sondern Raum zu geben für Individualität. Anna Tardos sagt: „Die Kinder brauchen ehrliche Mütter und keine Mütter, die Modelle aus Büchern nachahmen.“ Sascha Stienen
Info: Der Kurs „Das erste Lebensjahr“ nach Emmi Pikler
Familienbildungsstätten, Kirchengemeinden und Familienzentren bieten den Kurs „Das erste Lebensjahr“ an, der sich in besonderer Weise am Erziehungskonzept von Emmi Pikler orientiert. Mütter, Väter oder Großeltern besuchen die Kurse der katholischen Erwachsenen- und Familienbildung, die in der Regel einmal wöchentlich für anderthalb Stunden stattfinden. Den Babys wird ein auf den Entwicklungsstand abgestimmter, sicherer Spielraum geboten, der in Sicht- und Hörweite der Mutter liegt. Die Eltern können sich in Ruhe und Aufmerksamkeit ganz ihrem Kind widmen, zum Beispiel bei der Beobachtung seines Spiels oder bei der Pflege. Eltern erhalten von den ausgebildeten Kursleiterinnen zudem Informationen über Entwicklungsschritte des Kindes und seine Bedürfnisse im ersten Lebensjahr. Außerdem können sie sich mit ihr und den anderen Eltern über die veränderte persönliche und familiäre Lebenssituation austauschen.
Die Familienbildungsstätte Bonn etwa bietet eine Reihe von Pikler-Kursen an. Weitere Informationen unter http://www.fbs-bonn.de/. Hintergrundinformationen gibt es auch im familienhandbuch.de unter http://bit.ly/kvtu9l
Der Beitrag wurde am Mittwoch, 5. September 2012, 05:02 veröffentlicht und wurde unter dem Topic abgelegt. Sie können einen Kommentar hinterlassen.
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