Samstag, 29. September 2012
29. September 2012
Zwischen Unkel und Leutesdorf finden sich viele christliche Zeichen, Spuren und Gebäude. Eine spirituelle Wanderung
Es muss nicht immer gleich der Jakobsweg sein. Wer Gott sucht, findet seine Spuren und Zeichen auch auf dem Rheinsteig, zum Beispiel zwischen Unkel und Leutesdorf in Rheinland-Pfalz. Im Gepäck schwere, aber durchaus passende Reiseliteratur: „Vielleicht ist irgendwo Tag“, Aufzeichnungen des katholischen Alttestamentlers Fridolin Stier (1902-1981) – genau 638 Gramm Hoffnung zwischen zwei Buchdeckeln. In den letzten 20 Jahren seines Lebens bewegte den Theologen vor allem die Herausforderung des biblischen Glaubens durch die Thesen moderner Naturwissenschaft. In seinem Buch lässt sich diese Auseinandersetzung nachempfinden.
In der Natur kannst du Gottes Sprache vernehmen
Hinter Unkel geht es noch locker die Berge hinauf – wie mit einem eingebauten Elektromotor. Ein ergrauter Wanderer sagt: „Dann wollen wir den Express mal vorbei lassen.“ Der Überholte ist zwar langsamer, vielleicht halten er und seine Frau aber länger durch. Geschwindigkeit spielt beim Wandern nämlich keine so große Rolle. Drei Kilometer pro Stunde sind die angemessene Reisegeschwindigkeit, um die Schönheiten der Strecke wahrnehmen zu können. Jemand Kluges hat mal gesagt: „In der Natur kannst du Gottes Sprache vernehmen. Höre nur genau hin.“ Man könnte hinzufügen: Und bleibe ab und zu mal stehen.
Die erste wunderschöne Fernsicht erlebt der Wanderer vom Plateau Erpeler Ley – an einem mächtigen Holzkreuz mit Blick auf die Reste der Brücke von Remagen. Der Anstieg war steil, doch erst in Kasbach geht es auf eine alpine Streckenführung. Das bekommen die Oberschenkel zu spüren. Als kleine Entschädigung führt der Rheinsteig anschließend hinter die Kulissen bundesdeutscher Beschaulichkeit. Gartenzwerge, Wäschespinnen und Fensterpuppen sind mit der Zeit stehen geblieben. Irgendwann in den 80er-Jahren.
Die Sieben Schmerzen Mariens in Linz
In Linz am Grabentor steht an einem Fachwerkhaus: „Nicht das Freuen, nicht das Leiden stellt den Wert des Menschen dar, immer nur wird das entscheiden, was der Mensch dem Menschen war.“ Am Straßenrand ein Auto. Der Beifahrer denkt, ich notiere das Kennzeichen und fragt: „Sind Sie vom Ordnungsamt?“ – „Nein, nur ein schreibender Wanderer. Keine Angst!“ Linz ist nicht nur ein hübsches Städtchen, sondern auch ein vom katholischen Glauben geprägtes. Ein Bildstock mit Marienfigur und Jesuskind wartet an der Straße „Im Bethlehem“. Bis 1860 stand hier ein mittelalterliches Siechen- und Armenhäuschen. Kreuzwege befinden sich ja häufig an Wanderwegen. Aber bei den „Sieben Schmerzen Mariens“ handelt es sich nicht etwa um einen halben Kreuzweg, wie Stadtführer Fritz Ockenfels erläutert. „Da machten die Leute auf dem Weg zur Kirche halt, knieten nieder und beteten.“
Tilmann Joel stiftete kunstvollen Marienaltar
Am Ende des Weges liegt die sehenswerte katholische Pfarrkirche Sankt Martin aus dem Jahr 1214. An der alten romanischen Kirche kann man die „Vergotisierung“ im Mittelalter studieren, wie sie an vielen Kirchen des Rheintals zu beobachten ist. Der Tilmann-Joel-Park erinnert an einen 1395 in Linz geborenen Kirchenmann, der unter anderem in Koblenz als Probst wirkte. Die Grabmäler in dem Park sind prächtig ausgestattet. In der sonst sehr schlichten katholischen Pfarrkirche Sankt Marien kann der Wanderer den 1463 von Tilmann Joel posthum gestifteten Marienaltar bewundern.
In der Natur kannst du Gottes Sprache vernehmen. Ja, es muss stimmen: Eine saftige Löwenzahnwiese, wunderschöne einsame Felder, volksliedhafte Wiesen und Auen, eine Schnecke als Wappentier des Wanderers, ein gekreuzigter Christus an einer prächtig blühenden Rotbuche. Fridolin Stier nennt die Erfahrung Gottes in Natur und Kreatur „Gott-Einfälle“.
„Wanderer, halte ein und bete still“
Immer wieder Kreuze an den Wanderwegen, Bildstöcke, meist mit Marienbildnissen und dem „Ave Maria“ oder der Aufforderung: „Halt an o Wanderer, wo gehst du hin? Bedenke, dass ich deine Mutter bin.“ Ein modernes Blechkreuz mit dem Spruch „Gott zum Gruß“, ein gekreuzigter Heiland, dem unbekannte Schänder die Arme amputiert haben, ein Kreuz mit der Aufforderung „Wanderer, halte ein und bete still“ – häufig begegnen einem stille Zeichen der Gottesdiener. Ein mächtiger Strommast wirkt neben einem Wegkreuz wie ein technokratischer Zwilling, während das Schild am kleineren der beiden Brüder auf eine gute Ernte hofft. Erste Schmerzen beim größten anzunehmenden und nicht enden wollenden Anstieg. Schau auf deine Füße, nicht nach vorn. Erst wenn du oben bist: Schau zurück.
Bad Hönningen – mehr als Wein, Weib und Gesang
Unter den Ästen einer blühenden Kastanienallee – wie im Anderland – geht es Richtung Bad Hönningen. Ein Traum. Wem Gott seine Gunst erweisen will, den schickt er auf den Rheinsteig, soviel steht fest beim Blick über wunderschöne, städtische Riesling-Weinberge. Und das in einem Touristenstädtchen mit einschlägigem Ruf, das aber mehr zu bieten hat als nur Wein, Weib und Gesang. Zum Beispiel die unscheinbare Fatima-Kapelle, die es offenbar nur wegen Maria gibt. „In der Not des letzten Krieges hat der damalige Pfarrer Peter Helbach der Gottesmutter den Bau einer Kapelle versprochen“, berichtet eine Tafel. Der Pfarrer hielt sein Versprechen – und mobilisierte im Ruhestand lebende Bauhandwerker und Arbeiter, so dass der schlichte Bau 1953 errichtet und „der Muttergottes von Fatima“ geweiht wurde.
Abendmesse und Junggesellenabschied
Während die Einheimischen in die Kirche St. Peter und Paul zum Gottesdienst fließen, füllen sich langsam die Kneipen. Meine Unterkunft ist das Gasthaus „Bit-Eck“ mitten im Ort. Am Abend spielen sich sonderbare Jagdszenen in der Fußgängerzone ab.
Drei Junggesellenabschiede flanieren, einer besetzt die Außengastronomie und ergreift die Trinkspruch- und Sprachhoheit. Die Kellnerin muss sich Kosenamen gefallen lassen von den wildfremden Männern. Frosch-Mann Robert verkauft aus seinem Bauchladen, natürlich Kondome, während der Bad Hönninger Junggesellenverein vorbei marschiert. Ein bizarres Bild, fast wie eine Überlappung zweier Zeit- und Kulturzonen.
Hotelbibel mit Schlagwortverzeichnis
An Schlaf ist in dieser Nacht kaum zu denken, denn Bad Hönningens City feiert – und das Bit-Eck auch. Im Vorwort einer hauchdünn gedruckten Hotelbibel des Internationalen Gideonbundes lese ich: Im Herbst 1898 begegneten sich in einem Hotel in Wisconsin zwei fremde Handelsreisende, feierten Abendandacht und gründeten den Gideonbund.
Der verstehe sich nicht als Religionsgemeinschaft, sondern als Gruppe aktiver Mitglieder der evangelischen Kirche, der Freikirchen, Gemeinden und Versammlungen. Deren Ziel ist die Mission: „Menschen für den Herrn Jesus Christus gewinnen“. Deshalb geben sie Gottes Wort in Form der dreisprachigen Bibel weiter, die sogar über ein alphabetisches Schlagwortverzeichnis („Wo findet man Hilfe?“) verfügt – von Anfechtung bis Ewiges Leben und von Sünde bis Zweifel. Mittlerweile ist der Gideonbund in 182 Ländern tätig, heißt es.
Einsamkeit und Ehefrauen
Zum Schlagwort „Einsamkeit“ lese ich in dieser lauten, einsamen Nacht den Psalm Davids über den „Guten Hirten“: „Er erquicket meine Seele./ Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal,/ fürchte ich kein Unglück;/ denn du bist bei mir,/ dein Stecken und Stab trösten mich.“
Ein bisschen befremdlich sind neben dem missionarischen Eifer des Gideonbundes solche Sätze wie „Auch ihre Ehefrauen beteiligen sich an der Weitergabe von Gottes Wort in bestimmten Bereichen“.
Wie das Leben: Rauf und runter, rauf und runter
Am Sonntagmorgen, 7.30 Uhr, läuft im Fernsehen auf SWR Rheinland-Pfalz eine Reportage über das „Tauziehen um den Tempelberg“ in Jerusalem. Wenig später geht es wieder hoch auf den Rheinsteig. Oberhalb von Rheinbrohl schlummern verlotterte Kleingärten wie vergrabene Talente.
Von der Rheinbrohler Lay mit der wunderbaren Aussicht begleitet mich ein Schäferhund unaufgefordert einige hundert Meter zum Annahof, einem Bauernhof mit Bewirtung. Einmal nach oben steigen und dann oben bleiben – nein, so ist das Leben nicht und auch nicht der Rheinsteig. Deshalb geht es wieder hinunter: in zweieinhalb Kilometern von der Rheinbrohler Lay auf 198 Metern über Normalnull auf 139 Meter bei Kelmert. Ist es eigentlich ein Zufall, dass sich einige der bedeutendsten Szenen des Neuen Testaments – die Bergpredigt, die Szene auf dem Ölberg, Golgotha – oben auf den Höhen abspielen?
Ein Gott-Einfall in Hammerstein
Ein letzter Stier’scher Gott-Einfall trifft den Wanderer im beschaulichen Hammerstein. Dort liegt im unteren rechten Eck eines Weinberges der Friedhof. Ein kleines Viereck inmitten eines riesengroßen.
Plötzlich schießt mir ein Satz durch den Kopf: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ Wo kommen solche Gedanken her? Bloße Assoziationskraft, oder hat sich auch der Friedhofs- oder Weinbauer etwas dabei gedacht? Eine Antwort gibt es darauf heute nicht, aber noch einige Kilometer bis zum Ziel der heutigen Etappe im Weinort Leutesdorf. Weg und Zeit, darüber nachzudenken.
Von Sascha Stienen (Text und Fotos)
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