Montag, 10. September 2012
Sodom und Gomorra unter Palmen oder einfach nur Party?



Für eine Unterhose bekommt die Anwärterin auf den Titel der Miss Oberbayern mehr Punkte als für ein Hemd oder eine lange Hose. Dann gibt's noch Punkte für diejenigen, die Männer nur in Unterhose oder ganz nackt hinter sich scharen. Ganz viele Punkte gibt es für Anwärterinnen, wenn sie selbst oben ohne da stehen, ganz ganz viele Punkte, wenn sie sich auch ihres letzten Kleidungsstückes entledigen. Ist aber auch egal, letztlich gewinnt sowieso die körperlichste von allen, mancher würde sagen: die schönste. Schönheit sollte man in diesem Fall aber nicht mit Anmut verwechseln.

Wie ist das als Miss Oberbayern?

Wie das ist, Miss Oberbayern zu sein? – „Wenn man schon mal hier ist...“ Die rothaarige junge Siegerin hat für ihren überaus sportlichen Einsatz die meisten Punkte bekommen, dazu eine Miss Oberbayern-Schärpe und ein Video mit allen tollen Sachen, die sonst noch so im Oberbayern passieren. Das Video ist für zu Hause – zum Noch-mal-und-immer-wieder-Abspielen. Moderator der regelmäßig wiederkehrenden Miss- und Mister-Wahlen im Oberbayern ist Helmut Schafzahl. Silberne Mähne und Bart, Lederhosen, braun gebrannt, weit geöffnetes Hemd. Er versteht es, die angetrunkene Mehrzahl der Gäste zu bewegen, einige Kleidungsstücke für ihre Favoritin abzulegen: „Und wo bleibt die nächste Unterhose?“ Helmut ist mit seinen Dominos auch schon in der Plettenberger Schützenhalle aufgetreten, zuletzt anno 1996 beim Winterfest der Eiringhauser Schützen.

"Mir geht die Anbaggerei auf die Nerven"

Das Oberbayern ist sicherlich ein Paradiesvogel unter den Kneipen, Clubs und Discos, die den gemeinen Mallorca-Urlauber zum Verweilen (und Bezahlen) einladen wollen. Besonders – aber nicht nur – bei den älteren Semestern erfreut sich das Etablissement großer Beliebtheit. „Mir geht die Anbaggerei in diesem Laden auf die Nerven“, erzählt ein schnurrbärtiger Mittdreißiger während der täglich zweistündigen Happy Hour an der Hotelbar. Sein Barnachbar fand beim letzten Besuch zumindest besagte Misswahl recht witzig.

Sonst ist aber auf Mallorca alles nicht so drastisch, wie man immer hört, liest und fernsieht. „Jeder muss eben selbst wissen, was er daraus macht“, meint Susanne. Als Geächtete ist die junge Bankkauffrau mit ihren Freundinnen Silvia und Martina am letzten Freitag im August zum Düsseldorfer Flughafen angereist. Das Reiseziel Mallorca, eine der balearischen Inseln östlich vom spanischen Festland, ist für viele ihrer Bekannten ein südlich-sonniges Sündenbabel, das Sodom und Gomorra unter Palmen, kurzum: die fahrlässigste aller Urlaubsverfehlungen. Freilich, allein die Eindrücke in der Wartehalle auf dem Düsseldorfer Flughafen befriedigen jegliches Klischee vom trinkfesten, unmanierlichen deutschen Otto-Normal-Touristen: „Lieber barfuß zum Ballermann 6 als mit dem Mercedes zur Arbeit“ steht auf dem T-Shirt eines langmähnigen Mannes.

Sechs flotte Hasen stoßen an

Nicht weit davon: sechs Damen, Mitte 50, alle kurzhaarig gelockt, mit roten Hüten und darauf gesetzten Hasenohren, in T-Shirts mit Aufschrift „Die sechs flotten Hasen“ unter Blazern mit goldener Häschen-Brosche. Sie stoßen mit einem ersten Gläschen Sekt auf die Fahrt an. Der kleine Bierbäuchige mit der schwarz-rot-goldenen Ballonmütze, dem Handy an der rechten Jeanstasche und der Sonnebrille im Auschnitt (die somit in Bauchnabelhöhe hängt), fällt erst beim Einchecken im Flughafen Palma de Mallorca unangenehm auf – nach der Flasche Edelwhiskey aus dem Duty-free-Shop.
Zu dritt haben sie das Fläschchen im Flieger geleert, zu dritt sitzen sie nun lallend auf der Bank bei der Kofferannahme. „Wir haben ein ldol: Harald Juuuuuhnke!“ ist noch einer ihrer harmloseren Gesänge. Wenig später verlassen die Texte den jugendfreien Bereich. Diese Sorte volltrunkener Unterleibs-Minnesänger ist am Flughafen aber die Ausnahme.

Barbäuchig, krebsrot und sangria-selig

Mehr davon, vom typischen, immer wieder interviewten Mallorca-Kampftrinker gibt’s am Ballermann 6 zu sehen. Der Ballermann 6 heißt in der Landessprache „Balneario 6“, eine Bezeichnung für den Strandabschnitt Nummer sechs. Wie so vieles ist die Bezeichnung aber irgendwann eingedeutscht worden. Zumindest auf der Fetenmeile Ballermann 1 bis 12 sind spanisch sprechende Menschen in der Minderzahl. Man spricht deutsch, und man singt deutsch. Schlager zum Mitgrölen tönen von morgens bis abends aus den Boxen am Ballermann 6, dem Strandabschnitt, wo sich tagsüber die meisten Feierwütigen aufhalten. Unter einigen Dutzend Sonnenschirmen sitzen in der Mehrzahl Männer, die meisten barbäuchig, krebsrot, sonnenbebrillt, mit Mütze auf dem Kopf und Sangria-Strohhalm im Mund. Und die Sonne knallt.

El Bombo zaubert mit dem Ball

Ein Animationsprogramm gibt es dort nicht. Am Ballermann singt jeder selbst. Lediglich ein einheimischer untersetzter Fußballjongleur mit Sombrero macht Stimmung. Einen weißen Lederball lässt „El Bombo“ unentwegt von der Fuß- zur Kopfspitze springen. Knie, Schulter, Schulter, Kopf, Kopf, Spitze, Spitze – der Ball bleibt in der Luft. Sogar auf einem Bambusstock jongliert er ihn scheinbar ohne Mühe, dreht ihn, wie die chinesischen Künstler ihre Teller auf Stäben jonglieren.

Zehn-Liter-Eimer aus dem Supermarkt

Es fliegen Zwei-Peseten-Stücke, die El Bombo mit seinem Hut auffängt, vorher ebenfalls von Fuß zu Fuß springen lässt oder mit der Hacke in den Hut kickt. Die Begeisterung und die Höhe der Entlohnung richten sich aber nach dem Füllungsgrad der Menge. An einem anderen Nachmittag muss Bombo lange jonglieren, bis er Applaus bekommt, geschweige denn Peseten. Die Menschen bemerken ihn kaum, interessieren sich schon eher für eine Gruppe, die aus einer Badewanne Sangria trinkt und ein Mädchen in das süß-klebrige Gebräu wirft. Nachher wird freilich weiter aus dem Taufbecken getrunken. Üblich sind Ein-Liter-Sangria-Pötte – entweder am Ballermann 6 oder für viel weniger Geld aus einem der zahlreichen Supermärkte (dann aber nicht aus der hübschen Henkelvase, sondern aus dem violetten Zehn-Liter-Eimer mit Eis und Strohhalmen).

Frauen bringen Sangria an den Strand

Die Supermärkte haben sich scheinbar auf die Ess-, eher aber auf die Trinkgewohnheiten der Urlauber eingestellt. Zwei Drittel der Produkte sind der Kategorie „Alkoholisches“ zuzuordnen. Von den Supermärkten profitieren außer den Billig-Trinkern einheimische Frauen, die ihr Geld damit verdienen, schwitzenden Urlaubern am Strand ein eiskaltes Getränk aus dem Supermarkt zu holen – wie ein Hund die Schlappen des Herrchens holt. Diesen Kurierdienst lassen sich die Damen allerdings was kosten: Über
zehn Mark zahlt der Kunde für eine Flasche Bier. Den Preis wird er freilich immer erst nachher erfahren.

"Wir wollen nur ein Wochenende abfeiern"

Wer billig leben will, geht also am besten selbst einkaufen. Wie Darius und Sascha aus Recklinghausen. Sie haben immer eine Flasche Supermarkt-Bacardi auf dem Hotelzimmer. An diesem Samstag laden sie zu einem Drink auf dem Balkon ein, Sonnenaufgangsseite, morgens unerträglich, nachmittags schön kühl, abends angenehm. Die beiden bleiben drei Tage, wollen nur „ein Wochenende abfeiern“. Das tun sie auch. Nach 22 Uhr knallen die Bravo-Hits soundsoviel immer noch überlaut aus den Mini-Boxen ihres Ghettoblasters. Als sich die Nachbarn zum ersten Mal beschweren, erklärt Wortführer Sascha: „Bis der Pförtner oben ist, haben wir das schon wieder leise.“

Der Wachmann ist aber nicht der Pförtner. Er kommt unangemeldet und unverhofft, um zur Stille zu mahnen. Ein weiterer Balkongast, der wegen seiner wasserstoffblonden Lockenmähne „Effe“ (nach dem Fußballer Stefan Effenberg) genannt wird, versucht den Wachmann mit einigen hundert Peseten zu bestechen. Der Wachmann ist aber nicht bestechlich, wehrt wild mit den Händen ab und brabbelt dabei spanische Beteuerungen. Dann ist Sascha an der Reihe und bietet ihm einen Zahnputzbecher mit Bacardi-Fanta an. Während der alkoholkorrupte Wachmann trinkt, beschwatzt ihn Sascha und bemerkt alsbald, dass sein Gesprächspartner keinen Fetzen Deutsch versteht. Jetzt veralbert er ihn: „Dann machst Du deiner Frau also heute Abend noch den Hengst? Wenn du nicht kannst, kann ich auch kommen und es ihr besorgen.“ Anschließend wird der Wachmann herauskomplimentiert.

Eine lästige Spezies: der Anquatscher

Darius und Sascha wollen in die Disco. Ein paar flotte Sätze an der Theke, einmal Armdrücken mit Silvia, dann kommen sie und ihre beiden Freundinnen Martina und Susanne mit auf die Fetenmeile am Ballermann. Dort haben sich die Club-Animateure postiert: Anquatscher, die Werbung für ihren Schuppen machen, Einladungskärtchen verteilen und Flaneure mit Vergünstigungsangeboten zu ködern versuchen. „Heute Abend ins Joy?“

Billig-Bacardi im Disco-Schuppen

Das Joy Palace ist eine der billigeren Discotheken, 20 Mark Mindestverzehr, Bier und Sekt umsonst, teure Longdrinks. Sascha und Darius kennen die Masche. „Was bietest du? Wir sind eine ganze Gruppe.“ „Zwei Flaschen!“ Flugs wirft der Anquatscher seinen Köder aus, kritzelt auf ein Kärtchen mit Schnapsflaschen die Personenzahl, unterschreibt im Feld „lnvited by“ und lotst die gefangenen Fetenfischlein durch eine Gasse zum Joy Palace, einem Disco-Schuppen, der im Untergeschoss eines Hauses liegt. Dessen Eingang verschlingt die Eingeladenen wie ein Walfischmaul. Der Mindestverzehr wird auf der Lochkarte vermerkt, an der Theke gibt’s dafür. Eine Flasche Billig-Wodka, eine Flasche Billig-Bacardi und zwei Liter-Karaffen Lemon und O-Saft, deren Inhalt aber nicht ausreicht, um den ganzen Abend vernünftig zu mixen. Lemon- und O-Saft-Nachschub kostet soviel wie Mixgetränke in der gleichen Menge.

Ein Typ wie aus der Duschgel-Werbung

Um eine nicht allzu große Tanzfläche scharen sich im Joy Palace die übrigen Lochkartenbesitzer. Nebel, Laser, House-Musik, von einem Profi-DJ aufgelegt. Vortänzerinnen in bikiniknappen Kostümchen und mit öliger Haut tänzeln und schlängeln sich auf einer thekenähnlichen Anrichte direkt vor den groß gewordenen Augen mancher Herren. Ein Tänzer wie aus der Duschgelwerbung spult einige Meter daneben sein artistisches Programm ab. Seine Anstrengungen sind eigentlich zu schade für diese Disco.
Bis in die frühen Morgenstunden dröhnen die Beats, wer eine Lochkarte voll macht (Gegenwert 50 Mark), kriegt ein T-Shirt Marke Wühltisch mit Joy Palace-Aufdruck.

Longdrink in der Hand und Frau im Arm

Sieben Tage, sieben Nächte, am nächsten Tag das gleiche Spiel. Die Anquatscher werfen auch tagsüber ihre Netze aus. Besonders in der Nachsaison ist es schwer, die Discos voll zu bekommen, erzählt Simon. Mit seinem Mountainbike fährt der nutellabraune Mann mit der Rückentätowierung am Strand entlang und sucht nach aufgeschlossenen Gesichtern. „Ihr seht aus, als ob ihr feiern könnt!“ „Ja klar, wo denn?“ Simon spult seinen Werbefilm ab. Seine Augen sind hinter der schwarzen Sonnenbrille nicht zu ergründen. Nur sein Mund bewegt sich in dem von der Prinz-Eisenherz-Frisur umrahmten Gesicht: „Habt ihr schon was von Aquamania gehört?“ Kopfschütteln. „Gut, das ist eine ziemlich geile Party. Ihr zahlt jetzt 1.000 und 4.500 am Dienstag abend bevor’s los geht.“ Simon schildert schillernd: „Kostenloses Buffet und Trinken, auch extra scharfe Longdrinks, schön im Freizeitbad im Pool liegen, den Longdrink in der Hand und die Frau im Arm.“

"Das Riu ist ein bisschen teurer, aber echt edel"

Die so Beschwatzten willigen ein. „Ihr seid echt cool drauf, nicht so spießig wie die anderen hier.“ Simon bekommt 1.000 Peseten Anzahlung pro Nase, verteilt ein Reservierungskärtchen für den Abend („damit wir die Gästezahl einplanen können“), vermerkt Datum, Treffpunkt Joy Palace als Veranstalter, von dort aus soll mit Reisebussen ins Freizeitbad zur Aquamania gehen. Was man sonst noch gesehen haben muss? „Frauen, Frauen, Frauen und, ach wart ihr schon im Riu?“ Erneutes Kopfschütteln. „lst’n bisschen teurer als das Joy, aber echt edel.“

Frauen tanzen in Raubtierkäfigen

Edel ist im Riu der Teppichboden, edel sind die Barkeeper spanischer Machart, edel ist die Garderobe vieler Edelfrauen und -männer, allzu edelmütig darf aber auch gezahlt werden - beinahe doppelt soviel wie im Joy Palace. Dafür bekommt der gemeine Vergnügungssüchtige andere Dinge geboten: Eine Lasershow zu moderner Musik zum Beispiel. Die quadratische Tanzfläche ist eingefasst von vier Raubtierkäfigen in den Ecken. Diese um anderthalb Meter gegenüber der Tanzfläche erhöhten Gitterdreiecke rahmen das Geschehen ein. Dort tanzen die meiste Zeit des Abends spärlich bekleidete, aber umso großzügiger geschminkte Damen. Sie gleichen Tigerinnen oder Amazonen im „Messerwerfers Opfer“-Kostüm auf hochhackigen Schuhen, die bei übermäßigem Tanz an der Ferse Blasen gebären.

Stripshow mit abhängiger Jury

Als die Tanzfläche um 3 Uhr nachts immer noch prall gefüllt ist, schreitet der DJ zur ungewollten Stimmungsvernichtung, indem er eine Stripshow ankündigt. Das bedeutet Sonderschicht für einige Tigertanztanten: Ein schmieriger Moderator im Zweireiher stellt vier von ihnen als Ländergirls mit ihren (oder anderen) Vornamen vor. Vor einer ausgewählten Jury, die von vier zu Deppen degradierten bayerischen Mitgästen gebildet wird, lassen die Damen nacheinander bis auf ihre Höslein und ihre Stöckelschuhe alle Hüllen fallen. Dabei läuft Pop-Musik. Nach den Entblätterungen müssen die Jurymitglieder die Leistungen der Kandidatinnen mit Notentäfelchen von eins bis zehn bewerten, wie es zum Beispiel beim Eiskunstlaufen üblich ist. Eine
der beiden Punktbesten wird schließlich jene, die das Jurymitglied aus Augsburg mit in ihr Entblätterungsritual einbezieht, mit ihm lambadamäßig tanzt, ihm das Hemd aufknöpft und auszieht. Er bewertet mit Note zehn.

Noch schlimmer als bei "Tutti Frutti"

Die siegreichen Girls erhalten Pokale - vom Haus, für das Haus und für die nächste Stripshow. Die Jurymitglieder werden mit Armbanduhren ausstaffiert. Dann hat eine Vollstriptänzerin ihren Auftritt. Wer keinen Gafferplatz rund um die Tanzfläche ergattert, muss nicht traurig sein: Er kann das ganze Procedere auf einer großen Leinwand im Detail mitverfolgen. Wir übertragen live und in Farbe von der Tanzfläche mit stufenlos regelbarer Handkamera! Nach dieser Heimwerkerausgabe der längst eingestampften RTL-Busenshow „Tutti Frutti“ füllt sich die Tanzfläche in der Edeldiscothek nicht mehr – trotz anhaltend anregender Musik.

Ein Schlepper wie Popeye Stallone

So erntet Anquatscher Sly nur ein müdes Lächeln und einen vorlauten Spruch, als er die Riu-Gäste vom Vorabend an diesem Dienstag erneut einladen möchte. Sly wirbt tagsüber am Strand für Riu Palace. Er ist eine Mischung aus Popeye und Sylvester Stallone, kurze schwarz gelockte Haare, wie aufgeblasen wirkende braun gebrannte Bizeps und Brustmuskeln, braune Mandelaugen, das obligatorische Knautschpuppengesicht, Muskel-Shirt. „Das Riu ist der Laden. Alles andere ist Quatsch. Ihr wollt in den besten Laden, also müsst ihr bereit sein, etwas mehr zu zahlen. Dafür bekommt ihr auch mehr Klasse.“ Die Nummer Gut-und-teuer zieht bei André nach dem vorangegangenen Abend nicht mehr. Außerdem hat der Zeitsoldat für die Aquamania-Party an diesem Abend gebucht. Treffpunkt ist um 19.30 Uhr das Joy Palace, das Hauptquartier des Ausrichters.

Viehtransportzur Aquamania-Party

Dort tummelt sich zur vereinbarten Zeit eine Horde Animateure. Diesmal haben sie die Platte „Bitte zu den Bussen gehen, einsteigen und schon mal abfahren“ aufgelegt. Wer sich weigert, mit einem der ersten Busse zu fahren, bekommt zuerst Sprüche wie „Dann seid ihr die Ersten, die Cocktails bekommen“ zu hören. Einige Minuten später weisen die Anquatscher erst freundlich-aufdringlich, danach immer patziger daraufhin, dass die Gäste („Mensch Leute, geht bitte rüber“) sich doch tunlichst zu den Bussen am anderen Ende der Gasse bewegen sollten („Was ist mit euch? Steigt endlich ein!“). Das Ganze gleicht weniger einer Ausflugsfahrt ins feucht-fröhliche Schwimmparadies als einem Viehtransport.

"Macht Party! Schlaft nicht ein!"

In einen der Busse gepfercht, gesellen sich zwei Anquatscher hinzu, um die Insassen zum Fröhlichsein zu animieren. Der jüngere der beiden, höchstens 20 und milchgesichtig, ruft: „Macht Stimmung! Seid lustig! Macht Party! Schlaft nicht ein!“ Er versucht, eine La Ola-Welle zu starten, doch der Erfolg ist mäßig. Nun ist der andere an der Reihe, ein fließend Deutsch sprechender südländischer 1,60-Meter-Mann mit schmalem Schnauz und Kinnbart, zurück gegelten Haaren und schwarzem Lederkostüm Marke Italo-Western. Während der Bus aus der Wohnbebauung Playa de Palmas auf die Autobahn zusteuert, versagt auch er. „Warum macht ihr keine Stimmung? Soll ich mir etwa einen runterholen?“ ist sein letzter spaßiger Versuch, die Fahrgäste aufzumuntern. Während sich einige Fahrgäste noch fragen, ob sie irrtümlicherweise in einem Gefängnis auf Rädern gelandet sind und vielleicht auf dem nächsten Sklavenmarkt als Galeerensträflinge verkauft werden sollen, wird hinter den schmutzig-schmierigen Busfensterscheiben die Kulisse des Aquadroms sichtbar: tagsüber Vergnügungsstätte für Schwimmlustige, die den Strand scheuen, nachts einmal in der Woche Fetenort für das Joy Palace.

Die Anzahlung kontrolliert keiner

Am Eingang muss der Rest der umgerechnet 70 Mark Eintritt entrichtet werden. Niemand kontrolliert die mit 1.000 Peseten bezahlte Vorbestellung. Man könnte auch einen x-beliebigen Kassenbon in das vor dem Eingang aufgestellte schuhkartongleiche Sammelbehältnis legen. Nur ein Teilbereich des Schwimmbades ist zur Aquamania-Fläche auserkoren. Überdachte Partytische mit Papierdecken in Ferienlagermanier, eine Rundtheke, ein warmes Buffet, an dem Bedienstete wie in einer Kantine die Rationen Fettigfleisch, Pommes und Salat aufkellen.

"Besauft euch, damit ihr in Stimmung kommt!"

Eine Tanzfläche. Dort steht der vermeintliche Leiter dieses Ferienlagers und deklariert: „Leute, ihr seid die Party!“ Indirekt gibt er damit ein Geständnis seiner Inkompetenz als Animateur, kann aber seinen Gästen guten Gewissens raten: „Besauft euch, damit ihr in Stimmung kommt.“ – Er ist ein aufmerksamer Gastgeber, der fast jeden zweiten Ankömmling mit einem flotten Spruch begrüßt, wie eine der deutlich in der Minderzahl befindlichen Frauen: „Hallo Bückstück!“ – Charmant, charmant!

Das Erinnerungsfoto ist zusammen geklebt

Nach dem Essen ruft der Meister der Animation dazu auf, nach vorne zu kommen. „Ihr kommt jetzt alle nach vorne für das Erinnerungsfoto. Ich will keine besetzten Bänke mehr sehen.“ Ein Fotograf tritt vor die Tanzfläche. Dort positionieren die Anquatscher das Sechstel der Damen so, dass sie im Bildvordergrund vor der an die Tanzfläche angrenzenden Bühne sitzen und in der ersten Reihe auf der Bühne stehen. Die fünf Sechstel Männer stehen dahinter auf gleicher Höhe – vier Sechstel Männer werden von der Kamera gar nicht erfasst. Macht nichts, auch sie können nachher einen Fotoabzug für etwa zehn Mark erstehen. Eine Erinnerung, angesichts der die im Hotel oder daheim gebliebenen Mallorca-Fans sagen können: „Waren da aber viele hübsche Mädels. Da geh’ ich demnächst auch mal hin.“ Die Krönung des Feten-Nepps: Der Weitwinkel des Fotografen reichte nicht aus, das Breitwandformat besteht aus zwei nahtvoll aneinander geleimten Aufnahmen des rechten und des linken Teiles der Bühne.

Das Niveau sinkt sogar noch weiter

Angesichts derlei Niveaulosigkeit (oder auch ohne es zu merken) wenden sich die meisten Gäste wie befohlen dem Alkohol zu, auch um die 70 Mark annähernd rauszuholen. Die Stimmung steigt trotz geschilderter Rahmenbedingungen. Als lustig wird dann schon das erste und einzige Gesellschaftsspiel der Animation empfunden: Zwei Damen mit ausgesucht großer Oberweite spielen mit, dazu zwei Jungen. Nachdem der Oberanimateur die Spielregeln beschrieben hat (die Jungs müssen Donuts essen, die vor den Brüsten der Mädels baumeln), melden sich überstürzend schnell zwei Freiwillige. Flugs sind den Glücklichen die Augen verbunden, die beiden Mädchen mit den Donuts zwischen den Wölbungen ihrer BHs geben das Backwerk an zwei Männer weiter, die sich bereitwillig eingeweiht die Donuts vor die entblößten Po-Backen hängen lassen. Die Blinden glauben die Damen vor sich und fangen engagiert an zu naschen – zur Begeisterung der Menge.

"Ihr bezahlt uns hier den Aufenthalt"

Bier und Mischgetränke mit Billig-Fusel gehen in Mini-Plastikbechern massenhaft über die Theke, viele tanzen, andere trauen sich sogar in das eiskalte Wasser. Eine Anquatscherin, blond, Anfang 20, gesteht: „Ich kenne diese Party mittlerweile in- und auswendig. Es war schon mal mehr los.“ Ob sich ihr Job denn überhaupt lohnt? Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Sag mir, wo du sonst 2.000 die Woche verdienst! Ihr bezahlt uns hier den Aufenthalt“, sagt sie. Den wöchentlichen Satz von 2.000 Mark bestätigen später zwei weitere, unabhängig voneinander befragte Anquatscher.

Ärger mit der deutschen Polizei

Auch der Rausschmeißer verdient sich angeblich solch eine goldene Nase. Alles in allem sei es auf Mallorca viel besser als in Deutschland, erzählt er. Und überhaupt: In Deutschland habe er ja nicht mehr bleiben können. Ärger mit der Polizei, die ihn wegen fahrlässiger Tötung suche. Er spricht das so locker aus, wie andere aufzählen würden, womit sie beim Frühstück ihre Brote belegt haben. Um 2 Uhr fahren die letzten Busse zurück zum Joy Palace. Die Aquamania-Gäste haben dort freien Eintritt, frei Sekt, frei Bier, einen Longdrink gibt’s ebenfalls.

Jürgen Drews im Oberbayern"

Silvia, Martina und Susanne haben sich anstelle der Aquamania den Schlagerstar Jürgen Drews im Oberbayern angesehen. „War ganz nett!“, sagen sie und lachen viel sagend. Gut eine Stunde habe der knackige Altstar gesungen und angesichts der ausgelassenen Damen sogleich klar gestellt, dass er Frau und Kind zu Hause habe und dass er nicht mehr in fremden Betten zu schlafen gedenke.

Hölle, Hölle, Hölle im Bierkönig

Ihre letzten beiden Abende verbringen die Mädchen auf der Schinkenstraße. Theken und Essensstände mit deutschen Naturalien stehen dort dicht an dicht. Überfluteter Mittelpunkt ist bis weit nach Mitternacht der „Bierkönig“, ein von vielen Metern Theke eingefasster Biergarten mit Stehtischen und hohen Barhockern, wo überwiegend deutsche Schlagermusik zum Mitsingen gespielt wird. Sangria und Bier sind dort die Hauptnahrungsmittel. Udo Jürgens, Costa Cordalis und Wolfgang Petry gehören zu den Favoriten der Feiernden.

Wer brüllt, wird zuerst bedient

Aus den Boxen dröhnt Petrys „Das ist Wahnsinn. Warum schickst du mich in die Hölle...?“ – „Höl-le, Höl-le, Höl-le!“ schallt es aus Hunderten von Kehlen wider. Manche Sänger stehen dabei auf den Stehtischen und recken bei jedem „Hölle“-Schlachtruf einen Arm in den Nachthimmel. Beim Bierkönig ist jeden Tag Feiertag. Man kommt sich näher, alles ist friedlich, Gerangel gibt es höchstens mal an der Theke. Wer gut brüllt, wird dort zuerst bedient.

Deutsche Schlager, Harald Juhnke, Hossa

Sieben Tage, sieben Nächte. Nach einer Woche fliegen Martina, Susanne und Silvia zurück in die deutsche Heimat. Zum Tagebuchschreiben war nicht genug Zeit, dafür haben sie Sinn stiftende Stichworte notiert: „Si, non, la Noche, Viva, Sangria, Fiesta, Siesta, Jürgen Drews, Schweine-Jürgen, Sperma light, Drecksau, Hossa, Vodka, Tabogo (alias Bacardi), Deutsche Schlager, 72 kg, Wet-T-Shirt, Oberbayern, Strand- und Thekenspanner, Harald Juhnke, Lumumba, Bierkönig, Balneario 6, Vitamine, Potencio, Viva la Noche, Erotica.“

Nach zwei Stunden Flug stürzen die Mädchen ins deutsche Wetter- und Stimmungsloch. Susanne holt sich zu Hause bei nächster Gelegenheit die neuen Ballermann-Hits. Die hört sie jetzt jeden Morgen nach dem Aufstehen, bevor’s zur Arbeit geht... Sascha Stienen

(Erschienen am 25. Oktober 1997 im Süderländer Tageblatt.)
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