Mittwoch, 27. Mai 2009
Der Herr der Sonderlinge: Andreas Maier entwirft in seinem Roman „Sanssouci“ ein skurriles Figurenkabinett, um den Nachlass eines Filmemachers in Potsdam zu sezieren

In gewissem Sinne ist Andreas Maiers neuer Roman „Sanssouci“ eine Art Detektivgeschichte – denn die Hauptfigur, um die sich alles dreht, ist tot. Ausgangspunkt des Geschehens ist der verunglückte Filmemacher Max Hornung, Macher der ebenso fiktiven wie im Roman beliebten Potsdam-Vorabendserie „Oststadt“. Doch anders als in der klassischen Detektivstory geht es hier nicht um die Entdeckung der Umstände seines Todes, sondern seiner Lebensumstände. Dabei übernimmt der multipersonale Erzähler die Rolle eines neugierigen Sherlock Holmes: Er schaut den einzelnen Menschen aus Hornungs Umfeld nacheinander über die Schulter, wie sie in Potsdam auf den Spuren des westdeutschen Filmemachers wandeln.
Der Leser fühlt sich dabei wie ein Dr. Watson, dem der Erzähler-Holmes nach und nach neue Details über das Beziehungsgeflecht enthüllt, in dem Hornung gelebt hat. Das Buch wirkt wie ein Episodenfilm, ein komplexer Reigen, in dem abwechselnd aus Sicht der unterschiedlichen Figuren erzählt wird; und sie gehören alle irgendwie zusammen.
Ein Sympathieträger ist Alexej Lipskij, ein russischer Mönch von der „Bruderschaft des heiligen Hiob“. In Potsdam wird er ob seiner Enthaltsamkeit von den orthodoxen Christen begrüßt wie ein Heilsbringer mit messianischen Zügen. „Er begriff, daß die meisten Menschen überhaupt nicht wußten, warum sie auf der Welt waren. Sie hatten keine klare Idee und spürten keine Wahrheit in sich. Er selbst hatte nun drei Leitlinien: erstens sich an die Regeln des Klosters zu halten, zweitens streng enthaltsam zu leben und drittens, das war der gefährlichste Punkt, sich für den Geringsten von allen zu erachten. In nichts steckte so sehr die Gefahr der Hybris.“
Dem frommen Mönch als Symbol des Guten setzt der Autor das geheimnisvolle Zwillingspärchen Arnold und Heike entgegen. Die 17-Jährigen spielen in der Serie „Oststadt“ die Richter-Zwillinge und im wahren Roman-Leben eine verruchte Version von Hänsel und Gretel, ein gewaltbereites Brüderchen („Ich will die Eskalation, ich will sie unbedingt“) und ein laszives Schwesterchen („Heike war das Schlimmste, was es für Männer geben konnte“).
Schlimmer für Männer ist nur noch Merle Johansson, Hornungs Ex-Frau, die gezielt Männer in sich verliebt macht, mit ihnen Nachwuchs zeugt und danach zu Zahlvätern degradiert. Dann gibt es in Maiers Figurenkabinett noch Hornungs Kümmerling trinkenden Nachlassverwalter Christoph Mai und den krebskranken Aushilfsgärtner Ludwig Hofmann, der sich konsequent zu Tode trinkt und raucht.
Andreas Maier ist der Herr der Sonderlinge, in denen sich die Gesellschaft spiegelt. Seine skurrilen Figuren sind personifizierte Plädoyers gegen die Gleichmacherei, die sich wie in seinem Erstling „Wäldchestag“ und dem Nachfolger „Klausen“ gerade gegen Außenseiter richtet: „Sie wollen nämlich, daß alles gleich ist. Sie können nicht ertragen, wenn sich jemand von ihnen unterscheidet. Letzten Endes wollen sie alles, was anders ist, ausmerzen ...“
Wie in seinen ersten Romanen zeigt sich Maier als Meister der literarischen Darstellung des Hörensagens. Im Stimmengewirr der Masse ist niemals auszumachen, wer gerade spricht, als Quelle bleibt das „man“. „Zum Wesen des öffentlichen Gespräches gehört, daß es nie abreißt“, schreibt Maier. Bei einer Bürgerversammlung etwa ruft die stets leicht bekleidete Heike den Unmut des Klatschvolkes hervor: „Heiße man, rief jemand (wer es rief, war nicht auszumachen), neuerdings Prostitution von Minderjährigen gut? Protegiere die Stadt solche Dinge? Wir wollen wissen, was Hornung wirklich für einer war!“
Das freilich wird in dem Roman nicht aufgeklärt. Ebenso unklar bleibt zumindest für den Nicht-Potsdamer, ob „Sanssouci“ als Schlüsselroman zu lesen ist. Maier hatte 2004 sein Amt als Potsdamer Stadtschreiber wegen eines bizarren Streits um die Unterkunftsfrage („Platte oder Schloss“) nicht angetreten. Der Kritiker der Potsdamer Neuesten Nachrichten jedenfalls sah in „Sanssouci“ eine „Abrechnung“ mit der Stadtverwaltung. Vielleicht gilt für Maiers Buch ja dasselbe wie für Hornungs Serie: „Für die einen ist Oststadt eine Unverschämtheit, für die anderen die Wahrheit.“
Wie dem auch sei, Maier ist nach dem schwachen „Kirillow“ und dem feinen Naturbeobachtungsbüchlein „Bullau“ erneut ein geistreicher und sehr unterhaltsamer Roman gelungen. Das liegt auch an den tiefgehenden Überlegungen zur Sprache und zur zwischenmenschlichen Kommunikation, die im Buch der Schüler Nils anstellt: „Die Welt ist hauptsächlich etwas, das ich selbst nie erlebt habe. Ich weiß, der Gedanke ist banal, aber das Zentrum meiner Theorie ist nicht das, sondern daß im Grunde die Welt in der Kneipe oder auf der Wiese oder am Ufer entsteht. Ohne Reden fände das alles nicht statt.“ Auf die Nachfrage seines Freundes Arnold, was denn dann bleibe, sagt Nils: „Meines Erachtens bleibt von der Welt ohne Reden übrig: Potsdam, das Hafthorn, oder zum Beispiel der Sportplatz in Bornstedt.“
Sascha Stienen
Andreas Maier: „Sanssouci“, Suhrkamp-Verlag, 299 Seiten, gebunden, 19,80 Euro.
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